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Peter Krott:
Bewegende Monate von September 1944 bis April 1945
Kriegsflucht von Aachen nach Brenig

Heimreise ins Ungewisse

Die Heimfahrt

Ostern fiel 1945 auf den 1. und 2. April. Weil bis dahin die Nachhuten der Amerikaner ebenfalls weitergezogen waren, kehrte in Brenig zunächst eine gewisse Stille ein. Mein Vater hatte sich bis dahin wohl schon einige Gedanken über die Heimfahrt gemacht. Es war bekannt, dass wir für die Fahrt durch das besetzte Gebiet, also auch für unsere Heimfahrt, ein Papier brauchten. Dazu war uns zu Ohren gekommen, dass es genügen würde, wenn der Pfarrer ein solches Papier als eine Art Passierschein ausstellen würde. Sehr wichtig sei dabei ein amtlicher Stempel unter diesem Papier. Vater ist dann zum Pastor gegangen und hat dort auch ein entsprechendes Dokument erhalten. Wer das war, nachdem der Pfarrverwalter von Brenig im Januar 1945 der Bombe zum Opfer gefallen war, weiß ich nicht mehr.

Mit diesem besagten Dokument in der Tasche sind wir dann jedenfalls am Samstag, dem 7. April 1945 mit unseren Gefährten, den Karren und Fahrrädern losgezogen. Ohne großen Aufenthalte zogen wir an dem Samstag durch bis Binsfeld bei Düren.
Die Umgebung unseres Weges war wie ausgestorben. Während unserer Fahrt bzw. trefflicher während unseres Ganges begegneten wir nur hin und wieder vereinzelt Menschen. Diese teilten uns dann allerlei Parolen mit. Zunächst vor Weilerswist hieß es: „Hier kommt ihr nicht über die Erft! Ihr müsst bis Lommersum fahren! Da ist eine ordentliche Brücke.“ Ich kannte in der Zeit keine Erft und stellte mir deshalb vor, dass es sich dabei um einen breiten Bach handeln könnte. Mein Vater glaubte dem Mann und fuhr ohne zu zögern in Richtung Lommersum. Daraus ergab sich ein Umweg von mindestens 10 km und ich fragte mich im Stillen, ob das denn wahr sein sollte und ob es überhaupt notwendig war, sich auf ein solches Gequassel zu verlassen. Aber es wurde gelaufen, geschoben und gezogen. Zum Glück war die Straße recht ordentlich und ziemlich flach.

In Brenig hatten wir schon erfahren, dass in Düren die Überfahrt über die Ruhr nur sonntags möglich sei. Ein weiteres Gerücht vernahmen wir von einem anderen Passanten, wonach wir in Düren zur Überfahrt über die Ruhr morgens schon um 6.00 Uhr sein müssten, sonst ließen uns die Amerikaner nicht durch.

In Binsfeld hatten wir dann nach einem Quartier gesucht. Einen Mann der in dem zu der Zeit relativ leer erscheinenden Ort unseren Weg kreuzte, fragten wir, wo wir uns für die Nacht lassen könnten. Der empfahl uns prompt mitten im Ort ein verlassenes Haus mit anschließendem Hof. „Dort hatten auch schon andere genächtigt“, sagte er noch, als er schon wieder im Gehen war. Wir suchten also das beschriebene Haus auf und fanden im hinteren Anbau zwei bis drei Räume, die mit Strohballen ausgestattet waren. Da fingen meine Schwestern auf einmal davon zu faseln an, was denn hier nicht alles für ein Ungeziefer auf uns lauern könnte. Im nächsten Moment war die ganze Familie von dieser Sorge angesteckt. Keiner wollte mehr im Stroh schlafen. So setzten wir uns ein Jeder zum Schlafen zunächst auf einen der in den Räumen vorhanden Stühlen. Aber der weite Weg zu Fuß von Brenig bis hierhin an einem Tag, war eine zu große Strapaze. Gegen Mitternacht lag dann doch jeder von uns zum Schlafen im Stroh.


Auf der Landstraße unmittelbar vor dem Ortseingang in Lommersum. Diesen Weg sind die Krotts 1945 ebenfalls gezogen. Es war ein Umweg, weil in Weilerswist kein weg über die Erft führte


Lommersum ist von seinem Charakter her schon ein Dorf, wie es typisch für die Zülpicher Börde ist. 2014 mit Blickrichtung Ortskern


Lommersum in Blickrichtung Ortsausgang, wie ihn die Flüchtlinge in Richtung Aachen zu Fuß gingen

In Düren war der „Totale Krieg“ zu Hause

Am nächsten Morgen, es war der 8. April 1945 und Weißer Sonntag, brachen wir schon sehr früh auf, denn wir wollten ja noch vor 06:00 Uhr die Rur-Brücke in Düren passieren. Bereits im Dämmerlicht erkannten wir, dass Düren total zerbombt war. Kein Haus stand mehr. Tatsächlich mussten wir das vom Pastor ausgestellte Dokument auch vorzeigen. An der notdürftig reparierten Brücke über die Rur stand ein amerikanischer Wachsoldat, der wohl prüfen wollte, wer im besetzten Gebiet unterwegs war, denn der Krieg war weiter im Osten Deutschlands ja noch nicht vorbei. Wir zeigten ihm das vom Pastor ausgestellte Dokument. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Der Soldat murmelte so etwas wie o.k. und wir durften rüber.
Düren bot auch im Hellen ein trostloses Bild: Alles war öd und leer. Einzig eine Kolonne farbiger amerikanischer Soldaten arbeitete an einem Lichtblick: Sie waren an diesem Sonntag dabei, eine Straße zu Teeren und damit passierbarer zu machen. Aber keiner von uns traute sich so richtig nach rechts oder links zu schauen und dabei die Amerikaner anzublicken. Auch die Amerikaner schauten nicht groß zu uns. Wir waren wohl für sie auch nicht die ersten Flüchtlinge, die auf ihrem Heimweg das zerstörte Düren passierten. Die Amerikaner arbeiteten stetig weiter und machten ggf. höflich Platz, um uns durchzulassen. Auf dem ganzen Weg von Brenig bis hierhin, waren uns kaum Menschen begegnet und selbst amerikanische Lastkraftwagen begegneten uns nur sporadisch. Meistens saßen Farbige am Steuer. Beachtet oder gar belästigt wurden wir von keinem der neuen Herren.

Von Düren aus strebten wir weiter in Richtung Langerwehe. Weiterhin fühlten wir uns wie im Niemandsland. Wir hatten nun ein Tempo aufgenommen, das ich bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Es schien, als sei die Familie nicht mehr zu halten, obwohl wir ja erst gut die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. In Langerwehe bogen wir nach links in Richtung Gressenich und Mausbach ab. Auch diese beiden Orte waren total zerstört. Seitlich der Straßen trafen wir mehrfach auf abgeschossene Panzer und Geschütze.
Von Mausbach aus war es nicht mehr sehr weit bis Walheim, unserem Heimatort. Der Weg bis dorthin führte über Breinig.

Breinig war von den Amerikanern kampflos eingenommen worden. Es gab dort kaum ein beschädigtes Haus. Wie viele Bewohner von Breinig vor der Front geflüchtet waren, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls schien in dem Ort alles intakt zu sein. Es gab an diesem Weißen Sonntag 1945 sogar Kinderkommunion im Dorf. Außer dem Kirchturm waren auch etliche Häuser mit der Kirchenfahne in Gelb/Weiß beflaggt. Nach den Eindrücken unseres Weges von Brenig und noch mehr vom total zerstörten Düren bis hierhin kamen wir uns so vor, als seien wir in einer neuen Welt angekommen.

Von Breinig bis Walheim sind es ca. 5 km. Allerdings führt der Weg über den sogenannten Breiniger Berg, den wir mit eigener Muskelkraft zusammen mit unserer Fuhrwerken erklimmen mussten. „Dieser Berg nimmt uns die letzte Kraft des Tages!“, beschwor uns meine Mutter und schlug zugleich vor, in Breinig im Hause ihres Bruders Wilhelm doch noch einmal zu nächtigten. Abgekämpft und zugleich gespannt, kamen wir also an diesem späten Sonntagnachmittag bei Onkel Wilhelm an. Tatsächlich war die Freude groß, als wir uns so auf einmal nach diesen furchtbaren Monaten der Angst gegenüberstanden. Keiner wusste ja, was mit wem in der Zwischenzeit passiert war. Wir selbst staunten auch nicht schlecht, dass Onkel Wilhelm zusammen mit seiner Frau nicht geflüchtet war.Onkel und Tante nahmen uns Heimkehrer sehr herzlich auf. Für meine Eltern öffnete der Onkel sogar noch eine Flasche Weißwein, die im Keller ebenfalls den Durchzug der Amerikaner überlebt hatte. Noch heute sehe ich vor meinen Augen, wie die ganze Familie im Wohnzimmer sitzt und die Gesichter von Papa und Mama freudestrahlend dreinschauen.


Luftaufnahme vom total zerbombten Düren von Anfang 1945.
Foto: U.S. Air Force


Breinig 2014. Der Ort blieb von Kriegszerstörungen weitestgehend verschont

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Swisttal, im März 2014

Text: Peter Krott und Hans Peter Schneider
Fotos: Archiv Hans Peter Schneider, Peter Krott, Wikipedia

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