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Flucht nach Brenig |
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Aufbruch Natürlich musste auch das Vieh versorgt werden. Wir hatten Hühner, Kaninchen und ein Schaf. In jener Nacht hatten wir noch ein oder auch zwei Kaninchen geschlachtet und gegessen. Später brachten wir das Schaf auf die Wiese und öffneten an allen Kaninchenställen die Türen, damit die Tiere in die Freiheit konnten. Die Tür des Hühnerstalls hatten wir ebenso geöffnet und alles Futter hingestreut. Schließlich „versorgte“ ich mit meinem Vater die Werkstatt: Alle Lederriemen (Antriebsriemen) der Holzbearbeitungsmaschinen brachten wir ins Wohnhaus und versteckten sie dort im Keller. Dieselben waren ganz nette Kaliber von ca. 8 cm Breite. Bei unserer späteren Rückkehr sollten wir sie dort auch wieder auffinden, denn sie waren für den Betrieb unserer Schreinerei ungemein wichtig, da ohne sie eine Bearbeitung der Hölzer mit den Maschinen nicht möglich gewesen wäre.
Irgendwelchen Kontakt mit Nachbarn gab es in dieser Nacht nicht. Jeder befasste sich mit den eigenen existenziellen Problemen und Sorgen und jeder hatte davon genug. Das, was mit den Nachbarn noch zu klären war, hatte man in den Tagen vor der Flucht schon erledigt. So zwischen 5 bis 6 Uhr morgens am 11. September 1944 machten wir uns endlich auf den Weg. Wir waren nicht alleine. Ich hatte den Eindruck, dass bis auf ganz wenige, jeder Einwohner aus Walheim sich zu dem Zeitpunkt auf die Flucht vor dem herannahenden „Feind“ begab. Ganz Walheim war an dem Morgen auf den Beinen. Wie ich später feststellte, waren letztendlich von den seinerzeit etwa 1.600 Einwohnern allenfalls 20 in Walheim verblieben, um sich quasi zu Hause von der Front überrollen zu lassen. Es war ein für alle doch auch recht mulmiges Erlebnis, denn keiner wusste, was noch werden würde, mit dem Krieg und mit uns und mit unserem Zuhause. Bisher hatte es das ja noch nicht gegeben, dass die Alliierten im Deutschen Reich operierten und es besetzten. Leid hatten wir in den schon fünf Jahren Krieg viel gesehen und wir wussten alle, wie schnell der Tod einen erreichen konnte. Die nationalsozialistische Propaganda hatte uns zudem in mehrfacher Hinsicht irritiert:
Ich sehe uns noch heute, wie wir alle abmarschbereit vor dem Haus stehen und auf meinen Vater (Jahrgang 1886) warteten. Der hielt sich noch lange im Haus auf und ging dauernd in der Wohnküche umher, schaute sich alle Dinge an, die wir zurücklassen mussten und tat sich offenbar sehr schwer damit, das Haus zu verlassen. Als er schließlich aus dem Haus trat und als letzter zu den Wartenden trat, brachen wir auf. Unsere Gruppe bestand aus meinem Vater, Franz-Peter Krott, Schreinermeister in der vierten Generation in Walheim (1886 – 1966), meiner Mutter Katharina (1885 - 1965) meinen vier Schwestern Lina (Jahrgang 1920), Lisa (1921 – 2012), Klara (1923 – 2010), Barbara (Jahrgang 1927) und aus mir, Franz Peter (Jahrgang 1929). Mein Bruder Heinrich (1925 – 2010) hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst bei der Marine gemeldet und tat zu der Zeit auf einem Vorpostenboot in der Wesermündung Dienst. Sehr wichtig bei unserer Flucht waren unsere Fahrhilfen, die mehr Transporthilfen fürs Gepäck waren, als dass wir mit diesen im eigentlichen Sinne fuhren. Es galt das Motto „besser schlecht gefahren als gut getragen“: Mein Vater zog die sogenannte Stoßkarre. Das war ein Gefährt aus der Schreinerei, einachsig mit zwei Rädern und einer Ladefläche von ca. 1,30 m in der Breite und 2,00 m in der Länge. Meine Schwestern Lina und Lisa unterstützten ihn beim Schieben - deshalb Stoßkarre – des vollbepackten Gefährtes. Die Schwester Klara fuhr bzw. schob ein sogenanntes Geschäftsfahrrad, dass uns freundlicherweise von einer Walheimer Bäckerei überlassen wurde. Vor der Lenkstange war dieses Fahrrad mit einem Transportkorb ausgestattet, der ebenfalls voll mit Gepäck war. Meine jüngste Schwester Barbara zog einen Leiterwagen und ich hatte das Fahrrad meines Bruders Heinrich. Alles war schwer bepackt. Nur meine Mutter ging wegen ihrer schwachen körperlichen Verfassung ohne besonderes Gepäck. Fast alle Walheimer waren an dem Morgen
unterwegs. Nur weg von hier in Richtung Osten. Auf der Straße
war deshalb sehr viel los. Die meisten hatten sich alles Fahrbare
mit dem wichtigsten Hab und Gut hochbepackt. Schließlich
war es ein regelrechter Flüchtlingszug, ein Treck, der sich
in Bewegung setzte. Auch Nachbarn entdeckten wir in diesem. Jeder
war bedrückt. Auf dem ersten Wegabschnitt unserer Flucht,
also beim unmittelbaren Verlassen unseres vertrauten Heimatortes,
war das Unglücks-Gefühl am schlimmsten.
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Nachfolgend Peter Krotts Schwestern
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Nachdenken in Zweifall Wir sind also weitergezogen und erreichten noch im Morgengrauen Zweifall. Dort standen die Einwohner in ihren Haustüren und begafften uns regelrecht. Mitleidige Worte konnten wir nicht vernehmen, aber wir wurden mehrmals gefragt, warum wir den weglaufen würden. Offenbar waren die Zweifaller noch nicht so weit wie wir. Uns war der Aufbruch zur Flucht ja auch nicht leicht gefallen. Und als wir durch Zweifall zogen, da gab das den Bewohnern dort Grund genug, die eigene Flucht neu zu erwägen, wie auch wir selbst es in der letzten Zeit ohnehin schon mehrmals täglich neu getan hatten. Unser Flüchtlingstreck machte den Zweifallern jetzt einmal mehr den Ernst der Lage bewusst. Wie Walheim, lag auch Zweifall noch im sogenannten Westwall. Während schon am übernächsten Tag, dem 13. September 1944 die Front bereits kampflos über Walheim hinweggerollt war, geriet sie kurz hinter Walheim ins Stocken und blieb kurz vor Weihnachten 1944 für längere Zeit im gerade einmal fünf Kilometer entfernten Zweifall stehen. Das alles wusste am Morgen des 11. September 1944 aber noch niemand so genau. Die große Evakuierungsaktion sollte in Zweifall aber erst am 22. Dezember 1944 einsetzen.
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Der erste Tieffliegerbeschuss Von Zweifall aus führte der Weg – wir hatten gar keine andere Möglichkeit – weiter nach Süd-Osten entlang der sogenannten Jägersfahrt, das ist die heutige L24. Auch damals schon war das eine Landstraße in Richtung Monschau bzw. Hürtgen, die über etwa sechs Kilometer immer nur bergauf führte. Mit unserem Fluchtgepäck auf unseren mit Muskelkraft angetriebenen Fahrzeugen benötigten wir trotz höchster Anstrenungen ca. zwei Stunden, bis wir bei Raffelsbrand die Höhenstraße erreicht hatten. Dort schwenkten wir auf der Höhenstraße, der heutigen B399 nach links in Richtung Nord-Osten wo die Orte Vossenack, Hürtgen, Kleinhau usw. lagen. Die Straße liegt hier auf einer Art Hochplateau ziemlich offen und war voller Flüchtlinge. Da tauchen auf einmal feindliche Flugzeuge auf. Es waren doppelrumpfige Flieger der Amerikaner. Zunächst kreisten sie umher, um sich ihr Ziel auszusuchen und die konkrete Angriffsflugbahn zu planen. Dann ging der Beschuss auf die mit Flüchlingen volle Straße los. Alle stürzten sich zum Schutz in die seitlichen Straßengräben. Ich selbst fand Schutz unter dem mächtigen Baum vor einem Bauernhof nicht weit von der Straße entfernt. Dort hatte sich auch schon ein Bauer untergestellt, der an einer Leine ein noch sehr junges Pferd hielt, ich vermutete so eine Art von Brauereipferd. Die Knallerei der Tiefflieger machte das Pferd nervös. Es tanzte sehr wild umher, so dass der Bauer es kaum gehalten bekam und ich mich genötigt sah, ständig um den Baum herumzulaufen, um nicht von dem nervösen Pferd auch noch getreten zu werden.
Das unmittelbare Ziel der Tiefflieger waren nicht jedoch wir. Als wieder Ruhe eingekehrt war, zogen alle weiter. Nach einigen hundert Meter sahen wir dann, was die Tiefflieger angerichtet hatten: Es war ein mit einer Plane abgedecktes Pferdefuhrwerk, das sie sich als Hauptziel ausgesucht hatten. Das Fuhrwerk selbst war so lange beschossen worden, bis es brannte. Als wir daran vorbeizogen, war es schon nur noch Asche. Daneben lagen die beiden getöteten Pferde. Das Ehepaar, das mit dem Pferdefuhrwerk unterwegs war, kam ebenfalls aus Walheim, und zwar aus der Schmithofer Straße. Mir waren sie von dort bekannt. Auch sie wurden bei dem Angriff getötet. Ihre Leichen nahm man mit über Vossenack, Hürtgen und Kleinhau bis nach Gey, wo sie kurzfristig auf dem Friedhof beerdigt wurden. Die Amerikaner hatten vermutlich das beschossene Pferdefuhrwerk für ein deutsches Militärgespann gehalten. Die anderen Pferdewagen blieben unbehelligt. Uns veranlasste der Zwischenfall, bei nächster Gelegenheit zur Tarnung Birkenzweige an unseren Gefährten zu befestigten.
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Trennung vom Haupt-Treck Wenige Stunden nach dem Tieffliegerangriff
erreichten wir abends den kurz vor Kreuzau gelegenen Ort Winden.
Hier wurde uns ein Nachtquartier zugeteilt. Für die Nacht
hatten wir sämtliche Fahrzeuge zusammengestellt. Wie und wo
wir zu Essen bekamen, weiß ich heute nicht mehr. Ich meine
mich gar zu erinnern, dass wir dort schon von dem Proviant
lebten, den wir von zu Hause mitgenommen hatten. Bei einem
abendlichen Erkundungsgang durchs Dorf zusammen mit meinem Vater,
stellte ich fest, dass fast alle Walheimer, die ich während
des Zuges gesehen hatte, in Winden untergekommen waren. Wo
sollten sie auch sonst hin? Am anderen Tag ging es weiter, d.h. meine
Eltern und älteren Geschwister hatten mit den Wirtsleuten
vereinbart, dass wir noch eine Nacht länger dort bleiben
konnten. Daraus wurde dann aber nichts. Ohne zu wissen, was
dieser Abmachung dazwischen gekommen war, mussten wir gegen 16:00
Uhr aufbrechen und weiterfahren. Der Grund überhaupt für
unsere verzögerte Abfahrt war der, dass mein Vater sich vom
Haupthaufen des Flüchtling-Trecks absetzen wollte. Wir sind
dann mutterseelenallein in Richtung Osten gezogen. Bis zum Abend ging es aber nur bis zum Ort Soller. Dort kamen wir in der Scheune eines großen Bauernhofes unter. Dieser Hof lag direkt an einer Straßenkreuzung und die Scheune befand sich unmittelbar an der Straße. Nachts wurden wir dort vom Lärm vorbeifahrender Panzer geweckt. Die Panzer fuhren fest an der Scheune vorbei und die Erde mitsamt dem Gebäude erbebte unter dem hohen Gewicht dieser Kolosse. Verbunden mit dem Geräusch der großen mehrzylindrigen Motoren und dem Rasseln und Quietschen der Panzerketten war dieses ein beängstigendes Erlebnis. „Wenn sich hier jemand verfährt, sind wir alle platt“, sagte mein Vater. Zum Glück ging aber alles gut. Am nächsten Morgen brachen wir zeitig auf. Der Weg für die Flüchtling-Trecks war nach meiner Erinnerung ausgeschildert. So kamen wir am dritten Tag unserer Flucht über Vettweiß und Erp abends in Friesheim an. Dort landeten wir beim Ortsvorsteher und durften die Nacht auf dem Fußboden seines Wohnzimmers verbringen. Zu essen gab es dort nichts. Bis zum Morgen waren im weiteren Verlauf der
Nacht weitere Flüchtlingsströme in Friesheim angekommen
und der Ort hatte sich mit diesen regelrecht gefüllt. Aus
der Umgebung hatte man derweil einige Traktoren mit Plateauwagen
organisiert. Der Ortsvorsteher, also unser Wirt der letzten
Nacht, organisierte jetzt den raschen Weitertransport der
Flüchtlinge. Dazu rannte er ständig umher, schrie und
gab den Traktorfahrern die Anweisung: „Alles durchfahren
bis nach Siegburg! Ohne Halt!“. |
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Swisttal, im März 2014
Text: Peter Krott
und Hans Peter Schneider
Fotos: Archiv Hans Peter Schneider, Peter
Krott, Wikipedia