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Erinnerungen - vom Schüler zum Meister
1942 – 1965

Teil: Lehrzeit

Lehrzeit von 1953 bis 1956

Schon während der Schulzeit hatte ich bestimmte Vorstellungen von meinem zukünftigen Beruf. Er sollte mit Maschinen zusammenhängen. Da es auch damals schon zum Ende der Schulzeit so eine Art von Berufs-Beratungsgesprächen gegeben hatte, sah ich in dieser Beziehung schon ziemlich klar. Nach einer handwerklichen Lehre im Maschinenbau wäre ein Ingenieurstudium möglich gewesen. Klar war mir allerdings auch, dass es sich um einen – sagen wir mal – „einfachen“ Ingenieur ohne Diplom gehandelt hätte. Zur Erlangung des Diploms wäre das Abitur nötig gewesen. Dieses zu erlangen, war aber nie mein Bestreben gewesen und hätte von meinen Eltern auch nicht finanziert werden können – damals kostete der Besuch der Realschule DM 30,-- im Monat ! Ich war, wie die meisten aus meiner Klasse davon überzeugt, mit den Möglichkeiten eines Realschulabschlusses gut für eine „mittlere Laufbahn“, wie Rektor Lohrscheid immer so schön sagte, gerüstet zu sein, was sich ja auch weitgehend bewahrheitet hat.

Auf der Suche nach einer geeigneten Lehrstelle, die auch damals nicht im Überfluss vorhanden waren, hatte ich Glück. Bei der ortsansässigen REEDEREI BRAUNKOHLE wurde ich als Maschinenschlosser-Lehrling angenommen – das fürchterliche Wort „Auszubildender“ gab es noch nicht. Ich konnte die zwei Kilometer dort hin mit dem Fahrrad zurücklegen. Im ersten Jahr war auch unsere Berufsschulklasse noch in Wesseling, die später zunächst nach Sürth und dann nach Rodenkirchen verlegt wurde.

Die REEDEREI BRAUNKOHLE wurde zu jener Zeit noch als erste Adresse in Bezug auf Handwerksausbildung gehandelt. Diese wohl noch aus Vorkriegszeiten herrührende Reputation war nach meiner Meinung jedoch stark überzogen. Von meinen beispielsweise bei der UK eingestellten Berufsschulkollegen erfuhr ich, dass es dort eine einjährige Grundausbildung in einer speziellen Lehrwerkstatt gab. Als Lehrling der Reederei konnte man von so was nur träumen. Ganze 14 Tage dauerte der Grundkursus, wozu die neuen Lehrlinge in eine Art Kellerwerkstatt gestopft wurden. Meine drei oder vier Mitstreiter waren erst 14 Jahre, ich hingegen schon 17 Jahre alt. Am ersten Tag bekamen wir eine große Feile in die Hand gedrückt und sollten ein Stück Eisen (im Fachjargon heißt das „Stahl“) bearbeiten. Es sollte eine gerade Fläche hergestellt werden. Wir eierten mit der Feile herum, schafften keinen geraden Feilstrich und dachten: „Oh Gott, das lernen wir im Leben nicht !“ Es kann gut sein, dass ich mir an diesem ersten Tag meine alte Schule wiedergewünscht habe, von der ich so euphorisch Abschied genommen hatte. In den nächsten Tagen lernten wir auch den Gebrauch der Säge kennen und dann kam der dicke Hammer an die Reihe. Wir mussten etwa 2 mm starkes Blech in den Schraubstock spannen und dann das überstehende Stück mit einem Flachmeißel unter Einsatz des Hammers abtrennen. Zuerst waren wir ganz vorsichtig und klopften ganz sachte auf den Meißelkopf. Dies nahm das Blech jedoch nicht zur Kenntnis – es tat sich nichts. Also mussten die Schläge stärker ausfallen, gingen dann oft daneben und voll auf die Knöchel. Die Aufsicht über unsere ersten Gehversuche führte ein älterer Bauschlosser-Geselle, der für diese Tätigkeit im Grunde allerdings wenig geeignet war. Auf die Idee, uns Schutzhandschuhe zur Verfügung zu stellen, ist er entweder nicht gekommen oder es war doch Methode. Jedenfalls ist viel Blut geflossen, wodurch die Motivation, nicht daneben zu schlagen, enorm verstärkt wurde.


Lehrwerkstatt in den 1950er Jahren

Nach dieser Episode wurde man monatelang irgendwelchen Gesellen zugeteilt, die teilweise mit Maschinenbau gar nichts zu tun hatten. So war ich beispielsweise in den ersten Monaten einem Schweißfachmann zugeteilt, der überwiegend auf den dort vor Anker liegenden Schiffen Schweißarbeiten ausführte. Da (Elektro)Schweißen nicht im Ausbildungsplan des Maschinenschlossers stand, durfte er mir diese Fertigkeit auch nicht beibringen. So bestand meine Arbeit nur aus dem Transport des schweren Schweißgenerators von der Werkstatt zum Rheinufer, der Verlegung der Stromkabel zur Arbeitsstelle auf dem Schiff und dem Anreichen der Schweißelektroden.

Etwas besser erging es mir nach dieser Zeit mit meinem nächsten Gesellen. Dieser war Installateur. Wenn auch dieser Beruf nicht direkt etwas mit dem des Maschinenschlossers zu tun hat, habe ich dort einiges für meine spätere berufliche Tätigkeit gelernt. Das Problem für mich in dieser ersten Zeit bestand unter anderem darin, dass ich anfangs praktisch nur Handlangerdienste tun durfte und keine Gelegenheit zur Erlernung der handwerklichen Fertigkeiten wie etwa autogenes Schweißen oder Hartlöten bekam. Im Gegensatz zum Elektroschweißen waren die zuerst genannten Tätigkeiten sehr wohl Bestandteil des Ausbildungsplans. So musste ich mir diese Fähigkeiten nicht ganz legal in der Mittagspause im „Do it yourself“ Verfahren aneignen und es dabei auf Krach mit dem Meister ankommen lassen ! Schließlich habe ich dann noch einen selbstbezahlten Kursus für Elektroschweißen bei der Volkshochschule belegt. Zum Glück wurde dann etwas später die Werkzeugausgabe von dem wirklich fähigen Werkzeugmacher-Meister Josef Jost übernommen, welcher sich der Lehrlinge annahm. Dort habe ich dann doch noch die Grundfertigkeiten wie anreißen, sägen, feilen, bohren usw. gelernt. Da dort die Spiralbohrer in allen Größen für alle angeschlossenen Werkstätten verwaltet und instandgehalten, d.h. geschliffen wurden, habe ich auch das Schleifen von Bohrern noch so richtig von Hand gelernt. Heute benutzt man dazu Vorrichtungen oder wirft stumpf gewordene Bohrer gleich weg.

Meine Lehrfirma unterhielt auch eine große mechanische Werkstatt – Dreherei, Fräserei usw. Dort durfte ich während der gesamten Lehrzeit etwa 14 Tage verbringen, meistens mit Handlangerdiensten wie Kehren u.ä. beschäftigt. Damals hatte ich nicht den Mut, auf einer etwas umfangreicheren Unterweisung zu bestehen, die mir eigentlich zugestanden hätte.

Ein anderes Kapitel waren die Dieselmotoren. In den von der Reederei gewarteten Motorschleppern befanden sich riesige Schiffsdiesel mit z.T. mannshohen Kolben. Bei Überholungen wurden türgroße Verschlussdeckel an den Motorgehäusen entfernt und die Kurbelräume, in denen man teilweise stehen konnte, gesäubert – eine unangenehme und schmutzige Knochenarbeit. Trotz der von der Firma gestellten sogenannten Kesselanzüge sah man nach der Arbeit aus wie ein Schwein und stank fürchterlich nach Diesel. Trotzdem ging dies aber in Ordnung – schließlich war es eine der wenigen Tätigkeiten, die wirklich mit Maschinen zusammenhingen, wenngleich ich mich nicht gerade da dran gedrängt habe !

Eigenes motorisiertes Fahrzeug

Bereits im zweiten Lehrjahr konnte ich mir dann mein erstes eigenes motorisiertes Fahrzeug leisten. Es handelte sich um ein NSU Motorfahrrad Modell QUICK, Baujahr 1937, das mir ein ehemaliger Mitschüler Peter K. für DM 40,00 verkaufte. Zusammen mit meinem Vater habe ich das Motorrad erst mal im Keller in der Moselstraße komplett zerlegt. Während wir Rahmen, Schutzbleche und alle anderen Teile bis auf den Tank mit dem Pinsel neu lackierten, spendierte Vater den nicht unerheblichen Betrag für eine Tank-Einbrennlackierung in einem Fachbetrieb. Dabei wurde der Tank - wie auch die anderen Teile – zunächst schwarz lackiert und erhielt dann noch silberne Seitenflächen, die mit blauen Linien abgesetzt waren – optisch sehr ansprechend und obendrein noch stoß- und benzinfest. Der Motor erhielt neue Kurbelwellenlager und neue Korken in den Kupplungslamellen, die wir selbst zurechtgeschnitzt hatten. Vor der Anmeldung musste ich erst jedoch mal den Führerschein machen, bevor noch die Hürden des schon damals allmächtigen TÜVs genommen werden konnten und dann ging’s los – Fahrradfahren war passee. Zum Führerschein noch folgendes: Mein Einstiegsführerschein war der „alte Vierer“. Diesen konnte man erst ab 18 Jahren erwerben, er galt u.a. für Motorräder bis 250 ccm. Kurz vor Toresschluß am 27.10.1954 legte ich dazu eine recht einfache Fragebogenprüfung ab, was alles war. Ab 1955 wurde die Klasse 4 auf 50 ccm begrenzt, konnte aber schon mit 16 Jahren erworben werden. Dieser Schein gab bereits 16-Jährigen die Möglichkeit, schnelle „Fünfziger“ ohne Geschwindigkeitsbeschränkung zu fahren, was ich an gegebener Stelle noch näher beschreiben werde.


Reklame für Quick aus den späten 1930er Jahren

Wie später noch zu lesen sein wird, habe ich mit diesem meinem ersten Motorfahrzeug viel unternommen. Später dann ist mein Vater noch einige Jahre damit gefahren, bevor es den Weg alles Irdischen ging. Bilder aus dieser Zeit sind leider nicht vorhanden. Einen Eindruck soll das abgebildete Reklamebild aus den 1930er Jahren vermitteln. 1993 habe ich eine gebrauchte Quick von 1950 erstanden und neuwertig mit Mitteln restauriert, die mir damals vor 40 Jahren natürlich nicht zur Verfügung standen.

Die gute Quick wurde in der Folgezeit natürlich auch zu einem Bastelobjekt. Moderne Hebeleien mussten her, der komische Schalthebel auf der rechten Lenkerseite musste einem modernen Drehgriff weichen. Auch Frisieren wurde schnell ein Thema. Durch Abfeilen des Zylinderkopfes erhöhte ich die Verdichtung. Lieber hätte ich den Kopf auf der Drehbank bearbeitet, aber in meiner Lehrfirma hatte man für so etwas kein Herz. Mit einigen kleineren zusätzlichen Maßnahmen konnte die Höchstgeschwindigkeit von 55 auf ca. 60 km/h gesteigert werden, für mich damals ein beachtlicher Erfolg !

Erste Gedanken an Selbständigkeit

Zu diesem Zeitpunkt bereits entstand die Vision, das Thema Ingenieurstudium aufzugeben und den Schritt zur Selbständigkeit zu wagen, was aber noch ein paar Jahre dauern würde. Bestärkt wurde meine Meinungsbildung durch meinen Vater. Von seiner Arbeitsstelle her kannte er ja viele Kollegen, die zu dieser Zeit noch überwiegend Fahrrad oder Moped fuhren und denen er hin und wieder ihre Räder reparierte, weil diese Arbeiten in den einschlägigen Wesselinger Fachbetrieben doch recht teuer waren. Er glaubte, in einer mit mir zusammen betriebenen offiziellen Werkstatt dies alles viel preiswerter bewerkstelligen zu können und sah hier eine echte Marktlücke. Es muss aber noch einen anderen Grund für seinen Wunsch gegeben haben. Obwohl er nicht sehr viel von seiner Arbeit erzählte – eher noch von seinen Kollegen – hatte er mir mal folgendes Phänomen beschrieben, das mich damals fasziniert hat: Die UK hatte seinerzeit zwei ca. 100 m hohe Schornsteine, die heute allerdings verschwunden sind. Diese aus Steinen gemauerten Schornsteine würden an ihren oberen Enden – so erzählte er – bei starkem Wind mehr als einen Meter hin und her schwanken, was ich kaum glauben mochte. In meiner Vorstellung war etwas aus Stein gemauertes absolut unbeweglich und würde bei der geschilderten Windbelastung eher brechen als nachgeben. Was er mir damals nicht gesagt hatte – ich erfuhr es erst kürzlich von meiner Schwester – war der Umstand, dass man ihn drängen wollte, die auf den Schornsteinen fest installierten Mess- und Regelgeräte dort oben zu warten bzw. zu reparieren. Er war damals schon Mitte vierzig und alles andere als schwindelfrei. Ich vermute heute, dass er tatsächlich einmal einen der Schornsteine bestiegen hat. Im Verein mit einem früheren Erlebnis – in seiner Werkstatt hatte er durch auslaufendes Quecksilber eine starke Vergiftung mit langem Krankenhausaufenthalt erlitten – kann ich nachträglich seinen Wunsch nach neuer Selbständigkeit noch besser verstehen.

Quick erschließt die Welt

Mit der QUICK hatte für mich das Zeitalter der Mobilität begonnen. Zunächst einmal wurde die nähere und weitere Umgebung erkundet. Fahrten nach Düsseldorf zu einem Konzert mit dem Orchester Woody Hermann, nach Attendorn zur Tropfsteinhöhle, ins Neandertal, ins Wiedbachtal zu einem dreitägigen Zelturlaub sind mir noch in Erinnerung. Dabei habe ich fast immer Freunde oder Bekannte auf dem Soziussattel mitgenommen. Bei der Fahrt durch den Westerwald zum Wiedbachtal hatte ich außer meinem Begleiter Willy L. auch noch Zelt und Ausrüstung auf die QUICK gepackt. An etlichen langen Steigungen ging der Guten die Puste aus – sie verlangte nach Entlastung und mein Begleiter musste die Strecken zu Fuß gehen, der Arme ! Übrigens hat keiner meiner Begleiter je die Langsamkeit meines Untersatzes kritisiert – alle waren froh, auf diese Art und Weise etwas erleben zu können, das ansonsten versagt geblieben wäre.

Da seinerzeit noch samstags gearbeitet wurde, fanden all diese Fahrten überwiegend am Sonntag statt. Man fuhr mangels spezieller Motorradbekleidung mit den Alltagsklamotten. Bei einer der sonntäglichen Ausfahrten hatten mein Freund Heinz Z. und ich kurz zuvor neu erworbene Maßanzüge an, was kein Scherz ist. Einen richtigen Anzug zu besitzen, war damals unser größter, wenngleich normalerweise nicht zu bezahlender Wunsch gewesen. Ein Bekannter der Familie meines Freundes war Schneidermeister und hat uns beiden zwei Anzüge von gleichem Aussehen „gebaut“ – nur den Stoff hatten wir bezahlen müssen. Ausgerechnet an diesem Tag passierte es: Nach einem kurzen Halt war die QUICK nicht sofort angesprungen. Freund Heinz schob mich an und als die Kiste lief, wollte er sich schnell auf den Soziussitz schwingen. Bei dieser Aktion verlor ich das Gleichgewicht und wir fielen beide auf die Schn......! Unser erster Gedanke: „Die guten Anzüge !“ Diese waren – oh Wunder – jedoch ganz geblieben, allerdings war der Sturz der Trapezgabel nicht so gut bekommen – sie war durch das Verreißen der Lenkung zur Seite gebogen. Dank der guten Beziehungen meines Freundes bekamen wir die Sache jedoch trotz des Feiertages geregelt. In der Werkstatt der befreundeten ESSO Tankstelle Stupp an der Bonner Straße konnten wir – nachdem wir unsere weißen Hemden ausgezogen hatten - die Gabel ausbauen, richten und danach weiterfahren.

Zu dem Wert, den man damals als 18-jähriger auf gepflegtes Äußeres legte, passt noch die Bemerkung dass man nur gut rasiert ausging – Bärte waren noch nicht „in“. Durch die Beziehungen meines Freundes, der Lehrling im Radiogeschäft Wesselowsky in der Bahnhofstraße war, kam ich zu einem elektrischen Rasierapparat, den ich mit monatlich DM 15,00 von meinem Lehrlingslohn von DM 60,00 abbezahlt habe. Bereits im letzten Schuljahr hatte bei mir der Bart angefangen zu sprießen, dem ich bis dahin mit Vaters Klingen-Rasierapparat beigekommen war. Durch die Umstellung auf den Phillips Scheerkopf Rasierer kam ich mir mal wieder höchst modern vor, waren diese Geräte doch noch nicht sehr lange auf dem Markt und fanden bei der älteren Generation nur schwer Anklang.

Auf großer Fahrt mit kleinem Motorrad – Wesseling/Rostock und zurück

Auch meine erste eigene richtig lange Reise habe ich mit der QUICK unternommen – sie ging in einen kleinen Ort mit 7 Häusern, der zur Gemeinde Clenze im Landkreis Lüchow-Dannenberg an der ehemaligen Zonengrenze gehörte. Die jüngste Schwester meiner Mutter ( Nelly ) war nach dem Kriege dorthin verschlagen worden und hatte den Dorfschmied Hermann Lippe geheiratet.

Am frühen Morgen war ich mit meiner QUICK zu der langen Fahrt bei herrlichem Sommerwetter gestartet. Sie führte über die Autobahn durchs Bergische Land und dann später vor Dortmund in Richtung Hannover.

Für reichlich Butterbrote hatte Mutter gesorgt. Trotzdem verspürte ich um die Mittagszeit Appetit auf etwas Warmes und wagte mich in eine der auch damals schon verbreiteten Autobahn-Raststätten. Ich glaube nicht, dass ich zuvor schon mal eine Gaststätte von innen gesehen hatte. Dieser Besuch wurde zu einem Erlebnis der besonderen Art. Ich setzte mich auf einen freien Stuhl, packte meine Butterbrote aus und bestellte mir einen Teller Bouillonsuppe. Dabei hatte ich das unbestimmte Gefühl, alle Leute sähen mich irgendwie komisch an, worauf ich mir allerdings keinen Reim machen konnte. Die Ursache meines Gefühls wurde mir blitzschnell klar, als ich nach dem Essen die Toilette aufsuchte und in den Spiegel schaute. Mein Gesicht war schwarz wie das eines Negers. Plötzlich wusste ich auch, wie das gekommen war: Zum Schutz gegen Sonnenbrand hatte ich vor der Abfahrt mein Gesicht dick mit NIVEA Creme eingeschmiert. Auf der Autobahn musste ich praktisch an jeder Steigung kilometerweit hinter den Lastwagen herfahren und mein Tempo von knapp 60 auf 40 km/h drosseln, mehr schafften die damaligen LKW’s nicht. Sie hatten mit den Steigungen ihre liebe Not und warfen unter der erhöhten Belastung nur so mit Dieselruß um sich, was man sich heute kaum noch vorstellen kann. Für diesen Ruß war mein präpariertes Gesicht wohl ein ideales „Auffanglager“ gewesen.

Erst am frühen Nachmittag kam ich in die Gegend von Hannover, fuhr an den Continental Gummiwerken vorbei und bekam dabei eine Vorstellung von der Größe solcher bekannten Industriekonzerne. Bald darauf verließ ich die Autobahn und fuhr dann über die Landstraße nach Celle und weiter über Uelzen in den Kreis Lüchow-Dannenberg, meinem Ziel. Bedingt durch die „Langsamkeit“ meines Untersatzes konnte ich öfters mal einen Blick in die schöne Heidelandschaft werfen und verstand die Begeisterung meines Vaters für einen seiner Lieblingskomponisten und – Dichter Hermann Löns, die er mit unserem Rektor Lohrscheid teilte. Bevor ich den Wohnort meiner Tante nach etwa 500 Kilometern Fahrstrecke ziemlich kaputt erreichte, musste ich zuvor noch Dutzende von Kilometern über Kopfsteinpflaster-Straßen übelster Ordnung zurücklegen. Mein Besuch war wohl sehr willkommen, war ich doch einer der ersten aus der alten Heimat meiner Tante, der den Weg dorthin gefunden hatte.

Bereits nach zwei oder drei Tagen Erholung trieb es mich jedoch schon wieder fort – es war ja auch aus meiner Sicht nichts los in diesem Dorf und in dieser Gegend – keine „Äktschen“ wie man heute sagen würde. Bis heute hat sich daran in diesem damaligen „Zonenrandgebiet“ wohl auch kaum etwas geändert. Nachdem alles so gut gelaufen war, dachte ich mir, eine bis dahin noch vage existierende Vorstellung realisieren zu können. Ich hatte nämlich noch zwei weitere Tanten, die Schwestern Käthe und Lisbeth (Elisabeth) meines Vaters, die ebenfalls durch den Krieg vertrieben wurden und jetzt in Rostock bzw. im 65 km von dort entfernten Neukalen im heutigen Mecklenburg-Vorpommern wohnten. Beide Orte befanden sich in der DDR, die keine Einreise mit dem Motorrad zuließ. Mir blieb nichts anderes übrig, als bis zum nächstgelegenen Bahn-Grenzübergang zu fahren und dann den Zug nach Rostock zu nehmen. Dieser Ort - Lauenburg an der Elbe - war nach ca. 65 Kilometern erreicht. Mein Motorrad konnte ich einer KFZ-Werkstatt unterstellen, nachdem ich den Sachverhalt erklärt hatte. Die Fahrkarte für die ca. 200 km lange Bahnfahrt nach Rostock bezahlte ich in DM. Im Zug saßen überwiegend im Interzonenverkehr erfahrene Leute, die mich über die Verhältnisse und Zustände in der DDR aufklärten. Unter anderem wiesen sie auf böse Folgen hin, die beim Auffinden von Ostgeld bei einem Westdeutschen auftreten könnten. So warf ich dann aus lauter Angst einen 5-Mark-Schein Ostgeld , den meine Tante mir mal für eine evtl. Straßenbahnfahrt vom Hauptbahnhof zu ihrer Wohnung geschickt hatte, zum Abteilfenster hinaus! Beim ersten Halt auf Ostseite mussten alle Passagiere aussteigen und einige wurden zu Leibesvisitationen in speziell dafür aufgestellte Kabinen beordert. Auch ich gehörte scheinbar zu den Verdächtigen und wurde von einer uniformierten weiblichen Person unter die Lupe genommen. Ich erinnere mich noch sinngemäß an folgenden Dialog: „Sie haben doch mit Sicherheit verbotenerweise Ostgeld bei sich. Wenn sie dieses jetzt abgeben, geschieht ihnen weiter nichts. Bestreiten Sie jedoch das Vorhandensein von Ostmark, das wir bei der nun folgenden Visitation mit Sicherheit auffinden, werden sie noch zusätzlich bestraft ! “ Mein reines Gewissen muss man mir am Gesicht abgelesen haben – es kam zu keiner Untersuchung. Trotzdem war ich froh, als diese mulmige Situation überstanden war und endlich Rostock erreicht wurde.

Tante Käthe, die jüngste Schwester meines Vaters, hatte bis zum Angriff in der Gartenstraße 38 in Düren ausgeharrt – im gleichen Haus, wo auch wir bis zu unserer Flucht gewohnt hatten. Anschließend war sie, wie so viele, in den Osten Deutschlands gelangt. Dort hatte sie sich nach Kriegsende mit kunsthandwerklichen Tätigkeiten über Wasser gehalten, bevor sie Walter Hesse heiratete, mit dem sie drei Kinder bekam. Prof. Hesse war Leiter der HNO-Klinik in Rostock, wodurch die Familie in vielen Dingen nicht den DDR-typischen Beschränkungen unterworfen war. So war es auch kein Problem, mich eine ganze Woche zu beherbergen und mir noch obendrein vieles von der wunderschönen Landschaft Mecklenburgs zu zeigen. Hesses besaßen ein Auto – einen IFA F 9 der etwa baugleich mit dem im Westen gebauten DKW 3 = 6 war. Mit diesem Auto fuhr Tante Käthe mich nach Neukalen zu Tante Lisbeth, der älteren Schwester meines Vaters. Meine Tante und ihren Sohn, meinen Vetter Alfred, hatte ich Anfang der vierziger Jahre zuletzt gesehen. Tante Lisbeth lebte mit Alfred alleine, ihr Mann war verstorben und Alfreds Schwester EDITH stand bereits auf eigenen Füßen. Tante Lisbeth war Klavierlehrerin und schlug sich mit Unterrichtsstunden durch. Alfred besaß eine sehr gute DDR Schlaggitarre, die er hervorragend spielen konnte. So bot unser gemeinsames Hobby uns einen willkommenen Gesprächsstoff. Auf der Rückfahrt über kaum befahrene Landstraßen bot Tante Käthe mir an, doch mal ein Stückchen mit ihrem Auto zu fahren. Von mir aus hätte ich mich nie getraut, darum zu bitten.


Ifa F9

Mein Herz klopfte natürlich gewaltig, als ich hinter dem Lenkrad Platz nehmen durfte – hinzu kam noch, dass ich ja nur einen Führerschein (drüben hieß er Fahrerlaubnis ) für Motorräder besaß. Es hat aber gut geklappt und ein Polizist ist auch nicht aufgetaucht – das hätte nämlich eine Katastrophe werden können. Erstaunt war ich über ziemlich starke Schläge im Lenkrad beim Überfahren von Schlaglöchern, die ich dem Frontantrieb zuschrieb – moderne Gleichlaufgelenke in den Antriebswellen kannte man noch nicht.

Dass ich auf der Rückfahrt zum erstenmal in meinem Leben richtige Störche gesehen habe, sollte hier auch erwähnt werden.

In den wenigen Tagen Aufenthalt in Rostock bekam ich einen kleinen Eindruck davon, dass DDR Bürger viele Dinge nicht kaufen konnten, die bei uns schon selbstverständlich geworden waren. Z.B. Blumen waren so gut wie nie erhältlich, sehr zum Leidwesen meiner Tante und Blumenfreundin Käthe – mich hat das damals allerdings weniger interessiert. Alle Industrieprodukte, die mit hohem Material- und Energieaufwand hergestellt werden (Kraftfahrzeuge etwa) waren knapp. Auf ein Auto musste man ab Bestellung etwa 10 Jahre warten. Anders sah das beispielsweise bei aus Holz gefertigten Produkten aus. Hier konnte man Glück haben. In einem Musikaliengeschäft entdeckte ich eine interessante Gitarre, ein Mittelding zwischen Konzert- und Schlaggitarre. Da der inoffizielle Wechselkurs DM zu Mark der DDR etwa 1 zu 6 betrug, hätte selbst ich den Kauf finanzieren können. Zu diesem Kurs umgetauschtes Geld hätte man allerdings aus dem Westen schmuggeln müssen, wozu ich mich – wie zuvor geschildert – nicht getraut hatte. Tante Käthe muss mir wohl meine Überlegungen am Gesicht abgelesen haben – sie hat mir damals den Kaufpreis geschenkt !

Nun war noch eine letzte Hürde zu nehmen. Bei der Ausreise aus der DDR mussten dort gekaufte Waren verzollt werden. Die Gitarre hatte ich in ein altes Futteral gesteckt und zusätzlich meinen alten Motorradmantel (diesen hatte ich nicht bei meinem in Lauenburg abgestellten Motorrad gelassen, sondern mitgenommen) über die Gitarre gehängt .Bei der Kontrolle am Grenzbahnhof ist das nicht aufgefallen. Niemand hat mich nach zu verzollenden Dingen gefragt und somit bin ich umsonst an eine wunderschöne und gut klingende Gitarre gekommen. Nun musste ich nur noch mein Motorrad aus der Werkstatt, wo ich es abgestellt hatte, herausholen und sah sofort ein Riesenproblem – es war nämlich Sonntag. Die Zufahrt zum Werkstatthof des kleinen Betriebes war jedoch offen und mein Motorrad lehnte noch so an einem Zaun, wie ich es abgestellt hatte. Jeder Interessent hätte es leicht entwenden können, aber schon zu dieser Zeit interessierte sich kaum noch jemand für ein Leichtmotorrad aus Vorkriegszeiten. Die Rückfahrt war ähnlich strapaziös wie die Hinfahrt, wenngleich sie mir auch etwas kürzer vorkam – ein Phänomen, das ich noch heute beobachte.

Der Roller war für den Musiker eindeutig von Vorteil

Der mangelnde Wetterschutz meines Kleinmotorrades brachte es mit sich, dass man bei schlechtem Wetter immer irgendwie versaut ankam. Beispielsweise habe ich etwa 2 Jahre lang an jedem Wochenende in einer 3-Mannkapelle mitgewirkt – wir spielten in der Bar des „ HOTEL BELVEDERE“ in Brühl und hatten immer tipp topp zu erscheinen. Hans Riedel war der Akkordeonist unseres Ensembles und hätte lieber am Flügel gesessen, den das Belvedere jedoch nicht zur Verfügung stellen konnte. Er hatte in Militärkapellen gespielt und sogar einmal das Orchester bei einem größeren Zirkus geleitet. Seine Musizierweise war sehr anspruchsvoll und ich habe von ihm viel über harmonische Zusammenhänge gelernt. Helmut Fügmann als Schlagzeuger schließlich war immer zu irgendwelchen Späßen aufgelegt, was bei uns und beim Publikum in der kleinen Bar ankam. Obwohl jeder von uns dreien auch in der Lage gewesen wäre, zur Instrumentalmusik zu singen, haben wir das nicht praktiziert – diese Zeit kam erst später.


Mit Musikbegeisterung den Grundstock für den Zweirad-Laden geschaffen

Wegen des besseren Wetterschutzes kaufte ich mir einen gebrauchten Roller – eine NSU-LAMBRETTA 125 mit Kickstarter , die man bei kurzen Strecken auch mit Ausgehkleidung besteigen konnte. Ein Roller war eigentlich nicht mein Wunschtraum gewesen, lieber wäre mir ein ordentliches schnelles Motorrad gewesen. In meiner Leib- und Magenzeitschrift „DAS MOTORRAD“ hatte der Chefredakteur Carl Hertweck Roller mit ihren kleinen Rädern und dem freien Durchstieg eher als Fahrzeuge für Frauen oder Oberlehrer verspottet. Aber zunächst einmal musste der Zweck die Mittel heiligen. Bis auf Kleinigkeiten war der zunächst beigefarbene Roller fahrbereit. Einer der Schwachpunkte waren ständig ausgeschlagene Lagerbuchsen vom hinteren Federelement. Nachbar und Drehermeister Kurt S. fuhr den gleichen Rollertyp und hatte immer selbstgefertigte Ersatzbuchsen auf Lager, von denen er mir bei Bedarf welche abgab.

Erstmalig richtig bewähren musste der Roller sich auf einer 14-tägigen Urlaubsfahrt, die ich zusammen mit Karl-Heinz-W., der mit mir zusammen in der Lehre war, unternahm. Sie führte uns nach Titisee im Schwarzwald, nach Gutach zu den höchsten deutschen Wasserfällen, den Rheinfall von Schaffhausen und noch bis in die Schweiz hinein. Als ich viele Jahre später noch mehrmals in Hinterzarten war, habe ich immer das Cafe gezeigt, in dem ich damals an meinem Namenstag ein Stück Kuchen spendiert hatte, was eine willkommene Abwechselung unserer auf dem Campingkocher zubereiteten Dosenkost gewesen war. Für die Rückreise über Stuttgart hatten wir uns einen Abstecher nach Neckarsulm vorgenommen, um die NSU-Werke zu besichtigen, kamen jedoch verspätet an und konnten nicht mehr an der vorgesehenen Führung teilnehmen. Alternativ bot sich ein Besuch im Deutschen Zweiradmuseum an, den wir wahrnahmen und den man jedem Zweiradfan nur empfehlen kann, denn die Sammlung wurde bis heute ständig erweitert.

Da Karl-Heinz noch keinen Führerschein besaß, bin ich die ganze Strecke alleine gefahren. Hier war es umgekehrt wie bei meiner ersten Fahrt nach Italien als Sozius auf einer VESPA, die ich später noch ausführlich beschreiben werde, weil sie zu einem Schlüsselerlebnis für mich wurde..

Mein Vater fand gleichfalls Gefallen an dem Roller und kam auf die Idee, mit diesem Gefährt auch einmal Mutters Schwester Nelly zu besuchen, nachdem das bei mir ja ganz gut geklappt hatte. Bis in die Gegend von Celle ist er damals gekommen und dann auf ungeklärte Art und Weise ohnmächtig in einem Straßengraben gelandet- totaler „Blackout“ würde man heute sagen. Etwa 14 Tage hat er im Krankenhaus in Celle verbringen müssen. Damit der ziemlich lädierte Roller wieder zurückkam, bin ich dann schnellstmöglich mit der „VESPA Königin“ von unserem Pastor Benz nach Celle gefahren – die VESPA war immerhin ein Stück schneller und komfortabler als meine QUICK – und habe meinen Vater im Krankenhaus besucht. Den zerdepperten Roller habe ich am Güterbahnhof aufgegeben und bin dann am nächsten Tag wieder zurückgefahren.

Der Roller wurde von der Karosseriewerkstatt SCHMITT hier am Ort ausgebeult und komplett neu in weinrot lackiert, was uns besser gefiel als das ursprüngliche etwas fahle beige.

Rückblick auf unsere Fahrt zum Gardasee

Bei der Fahrt mit dem Roller konnte ich mich lebhaft an eine andere Reise mit einer VESPA erinnern, zu einer Zeit , als ich noch kein eigenes Fahrzeug und auch keinen Führerschein besaß. Ich war gerade in die Lehre gekommen, und der erste Urlaub stand vor der Tür. Mein ehemaliger Klassenkamerad Friedhelm M. besaß bereits eine VESPA. Es war ein Modell aus der ersten Serie der bei HOFFMANN in Lintorf nach PIAGGIO- Lizenz gefertigten Roller. Sie war noch mit einem Schaltgestänge ausgerüstet und hatte auch schon einiges auf dem Buckel, denn selbst für den etwas besser gestellten Sohn eines Amtmannes war so kurz nach der Schule ein Gebrauchtfahrzeug das Maß der Dinge. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben, dass er mich als Reisebegleiter für eine Fahrt zum Gardasee auserkoren hatte. Vielleicht hatte er ein bisschen auch auf meine allgemein bekannten technischen Kenntnisse im Falle einer Panne spekuliert. Meine Eltern waren zunächst auch nicht besonders glücklich bei dem Gedanken, dass ich mich so weit von der Heimat entfernen würde. Nun gab es in Köln-Bocklemünd einen Verwandten meines Vaters – Hanns A. war sein Name. Dieser war Goldschmied und vor allem mit den in der Nähe stationierten belgischen Besatzern gut ins Geschäft gekommen. Schon mehrere Male war er mit seiner Frau – ebenfalls mit einer VESPA – in Südtirol gewesen. Bei einem Besuch zeigte er uns seine VESPA, sie stand mit geöffnetem Motorgehäuse in seiner Goldschmiede-Werkstatt. Nach vielen Tausenden von reibungslosen Kilometern sei die Erneuerung eines Verschleißteils, nämlich des Schaltkreuzes nötig gewesen, erklärte Onkel Hanns mir. Während normale Motoren für Arbeiten am Getriebe meistens ausgebaut und zerlegt werden müssen, ging das bei der VESPA ohne Motorausbau nur nach Abbau der rechten Gehäusehälfte. Diese rationelle Konstruktion hat mir damals imponiert und als ich viele Jahre später VESPA Händler war, habe ich diese spezielle Reparatur dutzende Male selbst ausgeführt. Onkel Hanns sah kein Problem darin, dass auch junge Leute ohne große Erfahrung eine Reise, wie sie von meinem Kameraden Friedhelm Mühlhan und mir angestrebt wurde, zu bewältigen. Er konnte wertvolle Tipps zum Umgang mit der VESPA, zur Fahrtroute und zu Land und Leuten geben. Bei solcher Fürsprache fiel meinen Eltern die Erlaubnis nicht mehr ganz so schwer und sie gaben grünes Licht.

Da Friedhelm auch ein Zelt besaß, war die Frage der Unterkunft bereits gelöst. Wir machten eine Aufstellung der gesamten Kosten. Bargeld wurde benötigt für Benzin, Campingplatz-Gebühren und Lebensmittel. Ein Benzinkocher würde uns zum Wärmen der Konserven reichen, wodurch wir auf Gaststätten verzichten konnten. Über weitere Ausgaben für Reparaturen usw. machten wir uns keine großen Gedanken. Nur mit dem Nötigsten an Gepäck machten wir uns unbefangen auf die Reise. Eine besondere Motorrad-Schutzkleidung besaß keiner von uns beiden, Sturzhelme waren nur von Rennfahrern her bekannt.

Da wir bei schönem Wetter losfuhren, rechneten wir auch nicht groß mit Regen, und wenn schon. „Wenn ihr den Brenner überwunden habt, scheint garantiert die Sonne !“ hatte Onkel Hanns uns mit auf den Weg gegeben. Um schnellstmöglich unser Ziel zu erreichen, wählten wir den Weg über die Autobahn nach München, eine etwas langweilige Angelegenheit mit einem Fahrzeug, das solo mal gerade eben 70 Sachen schaffte. Mit Beifahrer und Gepäck, besonders an Steigungen, ging der Roller dann spürbar in die Knie. Trotzdem schafften wir es am ersten Tag bis kurz vor München, wo wir in einem Waldstück direkt neben der Autobahn unser Zelt aufschlugen, was auch zu dieser Zeit eigentlich schon streng verboten war. Kurz zuvor hatten wir unsere erste Panne gehabt: Aus heiterem Himmel war plötzlich das Hinterrad „luftlos“ geworden, die Fuhre schlingerte wie wild und Friedhelm hatte alle Mühe, das Fahrzeug ohne Sturz zum Stehen zu bringen. Wir haben dann das Reserverad montiert und das defekte Rad untersucht. Alle 5 Schrauben, welche die beiden Hälften der teilbaren Felge zusammenhielten, waren abgerissen.

Vor München war die Autobahn zuende, wir mussten die Stadt durchqueren, was für uns eine willkommene Abwechslung bedeutete und fuhren dann die Landstraße über Starnberg, Garmisch-Partenkirchen und den Geigenbau-Ort Mittenwald nach Innsbruck. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich richtige Berge und war überwältigt von den Eindrücken, die bereits dieser erste Eintritt in die Alpenwelt verschaffte. Am gefürchteten Zirler Berg ereilte uns die nächste Panne. Wir hatten an einer steilen Stelle anhalten müssen und bekamen Probleme beim Wiederanfahren. Friedhelm musste die Kupplung zu lange schleifen lassen und befürchtete, die damals noch mit Kork belegten Kupplungslamellen würden verbrennen. Also wurde Ballast in Form meiner Person „abgeworfen“. Der um ca. 60 kg. erleichterte Roller ließ sich jetzt in Gang bringen – ich war hinterhergelaufen und sprang auf, als Friedhelm völlig eingekuppelt hatte und wieder Kraftschluss bestand. Dabei passierte mir das gleiche, was meinem Freund Heinz Z. – wie geschildert – widerfahren war, als er seinerseits auf meine gerade in Fahrt gekommene Quick aufgesprungen war; wir segelten hin und der Auspuff brach ab. Da eine VESPA auch noch ohne Auspuff läuft und der Höllenkrach an dieser Stelle kaum jemanden stören sollte, fuhren wir zunächst einmal mit dem abgebrochenen Auspuff unter’m Arm weiter, bis wir schon bald an einer Werkstatt vorbeikamen, die auf so was eingestellt war und uns den Auspuff wieder zusammenschweißte.

Ohne weitere Probleme schafften wir es an diesem Tag bis nach Sterzing, wo wir zum zweitenmal übernachteten – diesmal auf einem richtigen Campingplatz. Nachdem die VESPA sich als außerordentlich zuverlässig erwiesen hatte und auch aufgrund des Kühlgebläses (wie beim VW-Käfer) keinerlei Überhitzungserscheinungen zeigte, waren wir zuversichtlich , schon bald unser Ziel erreichen zu können. Leider stand uns noch einmal eine Panne bevor – aller schlechten Dinge sind drei – ehe diese Serie abriss und danach überhaupt nichts mehr schief ging. Das vor München ausgetauschte Hinterrad erlitt den gleichen für uns unerklärlichen Schaden; wiederum waren alle 5 Schrauben abgerissen, womit sich unsere Blauäugigkeit rächte, das zuerst zerbrochene Rad nicht gleich nach dem Vorfall repariert zu haben. Nun standen wir da, mit nunmehr zwei defekten Rädern und dazu noch – wie sich herausstellen sollte – weit weg von der nächsten PIAGGIO Vertretung ! So stellte ich mich an den Straßenrand, mit einer Hand das bekannte Anhalterzeichen gebend, mit der anderen auf das platte Rad zeigend. Ich musste lange warten, bevor ein Auto anhielt. Es war ein deutscher Landsmann mit einem Barockengel-BMW, der mich mitnahm und nach einiger Zeit vor einer PIAGGIO Vertretung absetzte. In Italien gibt es keine als VESPA Vertretung gekennzeichneten Werkstätten wie in Deutschland. Die Italiener kennen nur den Firmennamen PIAGGIO, worauf wir uns erst einmal einstellen mussten. PIAGGIO ist ähnlich bekannt wie der Name FIAT, und Vespa nur eines der vielen Produkte, die PIAGGIO schon damals herstellte. Unter Weiterverwendung des alten Reifens wurde das Rad mit einem neuen Schlauch und einer neuen Felge wieder komplettiert, wobei die nur gebrochen deutsch sprechenden Werkstattleute mir zu erklären versuchten, dass es sich bei der neuen Felge um eine verstärkte Ausführung handele. Tatsächlich waren jetzt statt der M7 Schrauben solche mit 8 mm Durchmesser verbaut. An diesem Tag schafften wir es dann endlich bis zum Gardasee , wo wir schon auf den wenigen Kilometern von RIVA bis zu unserem Ziel LIMONE einen unvergesslichen Eindruck von der einmaligen Schönheit dieser Uferstraße bekamen. Hier endlich waren auch die unzähligen riesigen Werbeschilder längs den Straßen größtenteils verschwunden, die uns seit dem Brenner so sehr genervt hatten. Stattdessen konnten wir immer wieder einen Blick durch die teilweise zum See hin offenen Tunnels auf die für uns fremdländische bunte und exotische Vegetation werfen, wenn wir nicht gerade vom anderen Verkehr und mit lautem Gehupe überholt wurden. Palmen, Zitronenbäume und andere südliche Pflanzen und Bäume hatten wir zuvor höchstens mal bei einem Besuch des Botanischen Gartens in Bonn im Rahmen des Biologieunterrichts bewundern können. A pro pos Hupen: Dies taten die Italiener mit Vorliebe, nicht nur beim Überholen, sondern auch vor Kurven und bei jeder anderen sich bietenden Gelegenheit – wir empfanden es als Musik in unseren noch nicht lärmgeschädigten Ohren.

Auf dem Campingplatz angekommen hatten wir schnell unser Zelt aufgeschlagen und sind nach diesem anstrengenden Tag schnell eingeschlafen. Am guten Schlaf mitbeteiligt gewesen war wohl auch der gute Chianti. Den hatten wir noch kurz vor RIVA – Weinkenner und –Liebhaber mal kurz wegschauen - in unsere Feldflasche abfüllen lassen und zum Tagesabschluss gepichelt. Am nächsten Tag durfte sich die gute VESPA endlich einmal ausruhen. Unser Campingplatz war direkt am Wasser gelegen und der Ort nur ein paar Meter entfernt. Am dritten Tag ließ Friedhelm mich auf mein Bitten hin mal mit der VESPA fahren. In Deutschland hatten wir uns nicht getraut – ich besaß ja noch keinen Führerschein – in Italien vermuteten wir, eh nicht kontrolliert zu werden und wenn, dann milder behandelt zu werden. Ich fuhr von Limone nach Riva, wo ich frisches Obst auf dem Markt einkaufte und dann auch schon bald wieder zurück war – erleichtert, dass alles glatt gegangen war.

Allzu schnell gingen die wunderschönen Tage, die bis heute meine besondere Liebe zu Italien begründet haben, zuende. Bevor wir uns versahen, hatten Deutschland und der Alltag uns wieder.

Zurück zum Lehrlingsalltag

Nach diesem Abstecher nun wieder zurück in die Chronologie meines Lehrlingsdaseins. In der ersten Zeit fuhr ich mit dem Fahrrad in den Betrieb, wo ich auch das vorzügliche und abwechslungsreiche Mittagessen in der Kantine einnahm, die Kochfrauen machten sich viel Mühe. Als ich jedoch meinen ersten motorisierten Untersatz bekam, fuhr ich zum Essen nach Hause, was in der einstündigen Mittagspause kein Problem war. Meiner Mutter machte es sichtlich Spaß, mir leckere Sachen auf den Tisch zu stellen und nicht mehr alleine nur für sich kochen zu müssen, denn meine Schwester war mittlerweile auch schon in der Lehre bei der Chemischen Fabrik Wesseling. Inzwischen gab es ja nicht mehr den Mangel an Lebensmitteln wie noch vor wenigen Jahren, als mein Vater nebenbei diesem oder jenem Arbeitskollegen oder Bekannten ein Fahrrad oder eine Nähmaschine reparieren musste, damit mal was Gescheites auf den Tisch kam – eine frühe Form der Schwarzarbeit sozusagen.

Da ich in meiner Lehrzeit ( wie auch die meisten anderen ) noch samstags arbeiten musste, was sich lebenslang bei mir auch nicht mehr geändert hat, war meine Freizeit nicht sonderlich üppig bemessen. Neben meinen Hobbies musste ich ja auch noch Zeit zum Führen des Wochenberichtsheftes und für die Hausaufgaben der Berufsschule aufbringen. Mit letzteren tat ich mich allerdings ziemlich leicht. Fast alle Mitschüler waren als Absolventen der Volksschule jünger als ich und die Berufsschule musste diesen zunächst einmal Mathematik und Formelwesen vermitteln. Hier wie auch in der Fachkunde konnte ich mich aufgrund der auf der Realschule erworbenen Kenntnisse bequem zurücklehnen. Alle diese Dinge wie Hochofen, Stahlerzeugung usw. waren mir schon geläufig.

Zum mittlerweile nach Rodenkirchen verlegten Unterricht erschien ich als erster mit einem Motorfahrzeug, meiner Lambretta, die mir allerdings kurz vor der Gesellenprüfung noch am Taschengeld knabberte. Der angegossene Befestigungsflansch am Motorgehäuse brach , wohl als Folgeschaden einer nicht erkannten Verwindung des Rohrrahmens bei dem Unfall meines Vaters. Um diesen Schaden zu beheben, musste der Motor komplett zerlegt werden, womit ich damals an die Grenzen meines Könnens und meiner Möglichkeiten stieß, denn der Motor war ganz schön kompliziert und aufwändig konstruiert.


Unverschämt aufwändig und kompliziert – NSU Rollermotor (Lizenz Innocenti)

Ich baute den Motor nur aus dem Fahrgestell aus und brachte ihn zur NSU Vertretung Koch in die Kölner Straße, wo er zerlegt wurde. Mit dem gebrochenen Alugehäuse fuhr ich zu einem Spezialisten nach Köln, der mir die beiden Teile wieder zusammenschweißte. Dazu muss man wissen, dass Aluschweißen damals nur von ganz wenigen Leuten beherrscht wurde. Die heute verbreiteten Schutzgasverfahren waren im Handwerksbereich noch nicht bekannt und die Könner bedienten sich des autogenen Schweißverfahrens. Ihnen genügte ein normaler Schweißtisch, je eine Flasche Sauerstoff und Azethylen sowie ein Schweißbrenner und ein paar Alustäbe. Jeder, der es schon einmal versucht hat, kennt die Schwierigkeiten dieser Technik. Durch die enorme Wärmeleitfähigkeit des Aluminiums nimmt nicht nur die Reparaturstelle, sondern das gesamte Werkstück die erforderliche Schweißtemperatur an, die im Prinzip identisch mit der Schmelztemperatur von Alu ist. Da man dem Material – anders als z. B. bei Stahl – die Temperatur nicht ansehen kann, fällt das gesamte Werkstück u.U. in sich zusammen, wenn man beim Schweißvorgang die Flamme einen Moment zu lange draufhält. Dem guten Meister Kundert konnte das nicht passieren. Es war eine Augenweide, ihm zuzusehen. Ohne jede Hektik stand er da, ein Liedchen pfeifend und mit sparsamsten Brennerbewegungen hantierend. Für mich ist dieser Mann bis heute der Inbegriff eines vollkommenen und ökonomisch arbeitenden Handwerkers geblieben.

Zur gleichen Zeit weilte mein Vater zu einer Kur im Hunsrück, dem von der UK unterhaltenen Haus Tannenheim. Zu einem Besuch erschien mir meine verbliebene QUICK als etwas zu lahm, weil ich ja auch meine Mutter mitnehmen wollte. So lieh ich mir denn von meinem Freund Heinz Z. eine DÜRKOPP MD 150, die dieser sich auch schon geborgt hatte. Irgendwie schaffte Heinz es immer wieder, sich von irgendwelchen Leuten Motorräder auszuleihen, mit denen auch ich zumindest kleinere Probefahrten unternehmen durfte. Weiß der Teufel, wie er da immer drangekommen ist. Die Dürkopp habe ich als eine für den kleinen Hubraum und das Dreiganggetriebe erstaunlich lebendige und bergfreudige Maschine in Erinnerung behalten, von der ich jetzt auch ein Bild einfügen werde. Allerdings will ich es nicht übertreiben und von jedem von mir gefahrenen oder verkauften Motorrad ein Bild bringen, sondern nur wirklich interessante Details ablichten.


18 000 mal von 1951 bis 1954 gebaut – DÜRKOPP MD 150

Von der zuvor erwähnten Berufsschule erhielt ich grünes Licht für eine vorzeitige Ablegung der Facharbeiterprüfung, auch mein Lehrbetrieb war für diese Ampelstellung zu erwärmen. So konnte ich dann schon nach 3 anstatt nach 3 1/2 Jahren zur Prüfung angemeldet werden.

Während ich für die schriftliche Prüfung bei der IHK (Industrie- und Handelskammer) ein gutes Gefühl hatte, befürchtete ich ein Defizit bei der praktischen Prüfung. Zur Ehrenrettung meines Lehrbetriebes sei gesagt, dass ich kurz vorher noch einmal bei Meister Jost in der Werkzeugausgabe regelrecht auf die Prüfung hin getrimmt wurde. Danach fühlte ich mich sicher, alle geforderten Handgriffe zur Metallbearbeitung (anreißen, sägen, feilen, bohren, Gewinde schneiden, Passungen auf Umschlag ausführen, Bleche biegen, usw.) zu beherrschen. Die zweitägige Prüfung fand in der Lehrwerkstatt der Klöckner-Humboldt-Deutz AG in Köln statt. Als einziger Prüfling aus unserem Betrieb fuhr ich mit meiner Quick zur Prüfung, die Lambretta war ja noch zerlegt. Für den Transport der mitzubringenden Werkzeuge hatte ich mir einen extra stabilen Rohr-Gepäckträger für mein „Herrmännchen“ gebastelt. Die Zusammenstellung der Werkzeuge war sehr umfangreich und damit schwer(wiegend) ausgefallen, weil ich dem Rat von Josef Jost gefolgt war, lieber ein paar Teile mehr als zu wenig mitzunehmen.

Es waren mehrere Dutzend Prüflinge erschienen, aber die Lehrwerkstatt war riesengroß. Wir erhielten alle die gleichen Zeichnungen und vorgefertigten Metallteile, die innerhalb eines genau umrissenen Zeitrahmens bearbeitet werden mussten. Aus Blech sollte eine Art Fundament in zwei Ebenen gebogen werden, worauf eine Stahlplatte geschraubt wurde. Die Bearbeitung dieser Platte hatte es in sich. Sie musste mit einer Nut versehen werden, in die ein Riegel eingepasst wurde. Der Riegel wiederum konnte von einem exzentrisch gelagerten Hebel festgeklemmt werden. Die zulässigen Toleranzen für die passgenauen Teile betrugen 0,1 mm, für weniger wichtige Teile bis 0,3 mm. Wir alle, selbst die in den renommierteren Betrieben ausgebildeten Maschinenschlosser, waren uns einig, diese Arbeit niemals in der angesetzten Zeit bewältigen zu können. Am Abend des ersten Tages jedoch war ich mir sicher, das Prüfstück am nächsten Tag rechtzeitig abliefern zu können. So kam es auch – bereits gegen Mittag und etwa 2 Stunden früher als der nächste Aspirant gab ich meine Arbeit ab. Der aufsichtführende Meister, der zwischendurch immer mal einen Blick auf unsere Arbeiten geworfen hatte, fragte mich verwundert, warum ich es denn so eilig habe – ich solle mir doch Zeit nehmen und alles noch mal kontrollieren. Also maß ich alles noch einmal nach, fand aber keine Abweichungen und fuhr nach Hause. Bei der mündlichen Abschlussprüfung wurden uns die Bewertungen unserer Arbeiten mitgeteilt. Dies geschah durch den gleichen Meister, der auch vor Wochen die Prüfung beaufsichtigt hatte. Er zeigte mir noch einmal die Zeichnung und plötzlich sah ich, dass ich eine bestimmte Ecke vergessen hatte, zu bearbeiten. Ich hatte mich auf die richtige Funktion und die Einhaltung der Maße konzentriert - die vergessene Ecke hatte keinerlei Einfluss auf die Funktion und wurde daher von mir übersehen. Ich war knapp an einer „Eins“ vorbeigeschrammt.

Die schriftliche und zum guten Schluss noch die mündliche Prüfung legte ich bei der IHK (Industrie- und Handelskammer) ab, die sich in unmittelbarer Nähe des Doms in der Straße Unter Sachsenhausen befindet. Einige Wochen später gab es dann dort noch eine Lossprechungsfeier. Zu dieser Veranstaltung fuhr ich in Begleitung des Obermeisters unserer Werkstatt, Herrn T., der mich anschließend noch zu einem Abendessen in ein Brauhaus am Ring einlud. Ich hatte mit einer solchen Einladung überhaupt nicht gerechnet und fand sie auch etwas ungewöhnlich, hatte ich diesen Herrn während meiner Lehrzeit einerseits als ständig nörgelnd, andererseits jedoch als wenig interessiert am Lehrlingsgeschehen wahrgenommen. Vielleicht wollte er aber auch nur mal einen Abend von zuhause weg sein, wo er wohl auch seine Problemchen hatte. Für mich war es zunächst schwierig, überhaupt einen Gesprächsstoff zu finden, weil ich glaubte, das in Gang bringen zu müssen. Im Laufe des Abends löste sich die Atmosphäre etwas und wir haben uns dann doch noch angenehm über mein gutes Prüfungsergebnis und meine Zukunftspläne unterhalten können.


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Text: Hans Perscheid
Fotos: Archiv Hans Perscheid

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