Das erste Auto

1964 war schließlich das Jahr, in dem Willis Mobilität mit dem Erwerb des Führerscheins für Auto und Motorrad die nächste höhere Stufe erreichen sollte.

Schon wenige Wochen vor der Führerscheinprüfung erhielt Willi unverhofft ein Auto zum Geschenk. Sein vorgesetzter Geselle hatte im Winter oft genug mit ansehen müssen, wenn Willi früh morgens total verfroren und durchnässt auf der Baustelle in Ruppichteroth, Ahrweiler oder Much ankam. Kürzlich hatte der Bruder dieses Gesellen sich ein neues Auto angeschafft und das alte wollte er schnell loswerden. Bei diesem Auto handelte es sich um einen Lloyd LP 400, der wegen seiner Karosserie aus Kunststoff und Holz im Volksmund „Leukoplastbomber“ genannt wurde. Dieses Auto hatte einen rauchenden Zweizylinder-Zweitaktmotor, war 1964 bereits über 10 Jahre alt und mit seinen 13 PS im alltäglichen Verkehrsgeschehen nicht wirklich schnell.

Dennoch war auch bei Willi das erste Auto etwas ganz besonderes; alleine der Gedanke daran elektrisierte den jungen Mann, dazu als Geschenk und das auch noch bevor er überhaupt im Besitz eines Autoführerscheins war. Willis vorgesetzer Geselle hatte also diese Lebenssituation Willis richtig erkannt und arrangierte kurzerhand einen Übergabetermin mit seinem Bruder. Schließlich war es im Sommer 1964 in Sinzig so weit, wo der Bruder des Gesellen soeben sein neuerbautes Haus bezogen hatte.

Willi war zusammen mit seinem Bruder Karl auf der Kreidler zum Termin gefahren. Dort angekommen ging man sogleich in den Garten hinter dem Haus. Man sah dem Garten sofort an, dass sich wohl wegen der vielen Arbeiten am Neubau noch niemand so richtig kümmern konnte, so hoch waren die Brennnesseln darin. Der Bruder des Gesellen schritt zielstebig voran und bahnte sich einen Weg durch diese, bis die Gruppe schließlich vor dem verheißenen Auto stand. Offenbar hatten Kinder schon in und auf dem Auto gespielt: jedenfalls war das Dach total eingedrückt und es hatte sich Regenwasser in der sich dadurch entstandenen Dachmulde gesammelt. Der Bruder des Gesellen zeigte sich davon unbeeindruckt, öffnete im Nu die unverschlossene Tür des Lloyd und schlug mehrmals mit der flachen Hand vom Inneren des Autos gegen das Dach, bis dieses mit einem deutlich zu vernehmenden „Plopp“ wieder seine ursprüngliche Form annahm - so als wäre nichts gewesen - und die Wasseransammlung an den Seiten des Autos hinablief. Willi wusste ab diesem Augenblick, welchen Vorteil eine Plastik-Holz-Karosserie hat.

Luft war noch genug in den Reifen; glücklicherweise hatten die Kinder sich nicht an diesen zu schaffen gemacht. Aus einem Reservekanister wurde noch ein alter Rest von Zweitaktgemisch in den Tank entleert. Die Autobatterie hatte der Bruder des Gesellen ausgebaut und vorsorglich im Keller deponiert. Nachdem diese wieder eingebaut war, sang bereits nach einer kurzen Betätigung des Anlassers das kleine Motörchen lustig sein Zweitaktlied vor sich hin, als hätte es die Auszeit im Garten nie gegeben und nebelte diesen mit blauem Zweitaktdunst ein.

Das Auto war also jetzt fahrbereit und bescherte dem Beschenkten seine erste große Entzückung.

Aber das Tagesziel war noch nicht erreicht. Schließlich musste die Errungenschaft ja noch von Sinzig nach Brenig überführt werden. „Den Führerschein hast du ja schon?!“, fragte der Bruder des Gesellen strenk, allgemeine Verantwortung lauthals demonstrierend. Willi hatte wohl schon 6 Fahrstunden und auch über den ungefähren Termin für die Führerscheinprüfung hatte er schon mit dem Fahrlehrer gesprochen – aber in der gegenwärtigen Situation nach dem Einsatz so vieler wohlwollender Menschen und dem nunmehr fahrbereiten Auto in das man sich im Grunde ja nur hineinsetzen musste, wollte Willi so ein wichtiges Projekt mit Nichten an der Führerscheinfrage scheitern lassen. Er beantwortete die strenge Frage deshalb kurzerhand und schmerzlos mit „Ja“.

Ohnehin konnte der Bruder des Gesellen die Frage nach dem Führerschein nicht ersthaft gestellt haben, denn sogleich erschien er schon mit zwei Nummernschildern, die an die dafür vorgesehenen leeren Stellen zum Zwecke der Überführungsfahrt des bei Straßenverkehrsamt abgemeldeten Lloyds angeschraubt werden sollten. Er hatte diese Schilder irgendwo aus dem im Keller lagernden Hausrat herausgefischt, der im neuen Haus noch nicht seinen endgültigen Platz gefunden hatte. Willi erinnert sich noch, dass das Kennzeichen, welches mit „BN- ...“ begann vorne am Lloyd angebracht wurde und das mit „AW- ...“ beginnende Kennzeichen hinten. Der Rhein-Sieg-Kreis sollte ja schließlich erst 5 Jahre später im Rahmen der „Kommunalen Neugliederung“ seine linksrheinische Ausdehung bis ins Vorgebirge finden.

Wohl gerüstet begaben sich anschließend Willi und sein Bruder also auf den Heimweg nach Brenig. Natürlich wurde nicht der kürzeste Weg über die B 9 am Rhein entlang und durch Bonn gewählt. Das Risiko, dort von der Polizei erwischt zu werden, war den beiden viel zu groß. Es wurde deshalb eine Route über Gimmingen, Nierendorf, das Drachenfelser Ländchen und Meckenheim genommen, um ins heimische Vorgebirge zu gelangen. Bruder Karl fuhr mit der Kreidler immer ein Stück voraus um die Reinheit der Luft zu prüfen. Auf deutliche Zeichen mit Händen und Armen folgte ihm sodann Willi mit dem Lloyd.

Dennoch kam es unterwegs zu einer Situation, bei der Willi das Herz regelrecht in die Hose rutschte. Er erreichte die „Vier Bänke“ - das ist dort , wo die Landstraße zwischen Morenhoven und Dünstekoven die B 56 kreuzt und an der es damals noch keine Ampel gab. Willi erkannte im Halbdunkeln einen Uniformierten, der sehr aufmerksam den Verkehr beobachtete. Ein Entkommen gab es nicht! „Dä! Jetz hann se dich!“, schreckte es ihm durch alle Glieder; Lähmung der Angst breitete sich in ihm aus. Mit seinem geistigen Auge sah er schon den greifbar nahen Führerschein in weite Ferne entrücken. „Do moss du jetz durch! Jetzt boß nix anmerke losse!“ redet er sich immer wieder ein, nahm all seinen Mut zusammen und bemühte sich „normal“ weiterzufahren. Dann - mitten auf der Kreuzung - erkennt Willi plötzlich im Vorbeifahren, dass es sich bei dem Uniformierten gar nicht um einen Polzisten sondern um einen Eisenbahner handelt. Die ganze Aufregung war also zum Glück umsonst.

Wenige Wochen später und nach glücklich bestandener Führerscheinprüfung hatte Willi tatsächlich den Lloyd als sein erstes Auto hochoffiziell auf sich zugelassen.

Zurück zur Hauptgeschichte